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HYPERRAUM 3
( Fortsetzung von Hyperraum 2 )




Mathematik, Physik, Kunst und Okkultismus

Bernhard Riemanns* mathematische Arbeit über höhere Dimensionen fand zwar zu seiner Zeit in wissenschaftlichen Kreisen große Aufmerksamkeit, aber das öffentliche Bewusstsein blieb davon zunächst unberührt.

Das änderte sich erst 1877 (11 Jahre nach Riemanns Tod), als das Medium Henry Slade, der in Londoner Häusern Sé
ancen bei prominenten Persönlichkeiten abhielt, verhaftet und wegen Betruges angeklagt wurde. Slade wollte seine Fähigkeiten vor einer wissenschaftlichen Kommission demonstrieren und so seine Unschuld beweisen. Johann Zöllner, angesehener Professor für Physik und Astronomie an der Universität Leipzig, war dazu bereit und versammelte eine Gruppe hochkarätiger Wissenschaftler um sich: William Crookes (Erfinder der Kathodenstrahlröhre), Wilhelm Weber (Freund und Mitarbeiter von Gauß), Lord Rayleigh (Nobelpreis 1904) und J. J. Thompson (Nobelpreis 1906). Zöllners Verteidigung von Slade war in der Londoner Gesellschaft eine Sensation. Die Kommission gab schließlich bekannt, dass Slades „Zauberkunststücke“ durchaus möglich seien, indem man Objekte von der 4. Dimension aus manipuliert. Wenn jemand in der Lage ist, Objekte durch die 4. Dimension zu bewegen, dann kann er aus verschlossenen Flaschen Dinge holen, ohne sie zu öffnen, durch Wände gehen, plötzlich verschwinden und ebenso plötzlich an anderen Orten wieder auftauchen, ein rechtsdrehendes Schneckengehäuse in ein links­drehendes Schneckengehäuse verwandeln, in ein kreisförmiges geschlossenes Stück Seil einen Knoten machen, ohne das Seil vorher zu zerschneiden …
Die Verteidigung eines Spiritisten durch namhafte Wissenschaftler rief beim größten Teil der wissenschaftlichen Gemeinde Entsetzen hervor, wurde so doch der gerade überwunden geglaubte Okkultismus des Mittelalters durch die Hintertür wieder hereingeholt. Über Zöllners Experimente mit Slade braucht man sich heute keine großen Gedanken mehr zu machen. Zöllner war ein weltfremder Gelehrter, der Slades taschenspielerischen Tricks gegenüber völlig ahnungslos war. Bekanntlich ist Slade mehrfach eindeutig entlarvt worden.
Die Physik selbst verlor schon bald das Interesse an der 4. Dimension. Erst durch Einsteins Arbeiten wurde die 4. Dimension wieder zum Mittelpunkt wissenschaft­lichen Forschens.

Aber dieser Skandal um Slade weckte das breite gesellschaftliche Interesse an der geheimnisvollen 4. Dimension, die in der Zeit zwischen Riemann und Einstein einen nicht unbedeutenden Einfluss auf das kulturelle Leben Europas, Amerikas und Russlands hatte.
Viele okkulte Gesellschaften, inklusive der Theosophie, wurden von der Idee der 4. Dimension inspiriert. Selbst Teile der Kirche zeigten an der 4. Dimension Interesse, da es nun wieder einen Ort für Himmel und Hölle, Engel und Dämonen gab (nicht zufällig war der Verfasser von Flatland, Edwin A. Abbott, ein Geistlicher).
Die 4. Dimension hat Komponisten wie George Antheil (1925 schrieb er: „Mein Ballet Mécanique ist die neue vierte Dimension der Musik ...“), Skrjabin oder Varèse beeinflusst und taucht in den literarischen Werken von Edwin Abbott, Charles Hinton, Oscar Wilde, Dostojewski, Proust, H. G. Wells und Joseph Conrad auf.
Oscar Wilde (1854-1900) schrieb in Das Gespenst von Canterville: „Ein großes Kissen sauste am Kopf des Gespenstes vorbei. Da war keine Zeit mehr zu verlieren. Hastig nutzte es die vierte Dimension als Mittel zur Flucht und verschwand durch die Täfelung. Im Haus wurde es wieder ruhig.“
In dem Roman Die Zeitmaschine von H. G. Wells (1866-1946) erklärt der Zeitreisende seinen Freunden, dass es eine 4. Dimension, die Zeit, geben muss, und dass man in dieser 4. Dimension vor und zurück reisen kann. Daraufhin lässt er ein winziges Modell seiner Zeitmaschine vor den Augen seiner Freunde in die Zukunft verschwinden.

In ihrem Buch The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in Modern Art (1983) beschreibt die Kunsthistorikerin Linda Henderson den Einfluss der 4. Dimension auf die moderne Kunst, insbesondere den Kubismus (1907-1925, bekanntester Vertreter Pablo Picasso) und die russische Avantgarde (1910-1934). Kasimir Malewitsch (1878-1935, russischer Maler) z.B., der Begründer des Suprematismus, versuchte die verborgene Seite des Alltäglichen zu sehen, die sich hinter den sichtbaren Erscheinungsformen des Raumes versteckt. Die Anregungen dazu gingen weniger von den Entdeckungen der Gelehrten, wie Riemann oder Einstein, aus, sondern von den philosophischen Arbeiten Charles H. Hintons (1853-1907, britischer Mathematiker) und Pjotr Ouspenskys (1878-1947, russischer esoterischer Schriftsteller).
Charles H. Hinton war Exzentriker und Autor früher Science Fiction (sein Einfluss auf H. G. Wells und dessen Roman Die Zeitmaschine ist unverkennbar). Bekannt wurde Hinton durch seine Arbeiten zur Visualisierung der Geometrie höherer Dimensionen, und er hat den Begriff Tesserakt geprägt. Das Tesserakt ist die Verallgemeinerung des klassischen Würfels auf 4 Dimensionen. Man spricht dabei auch von einem 4-dimensionalen Hyperwürfel oder Hyperkubus.



Hypercubus

Crucifixion (Corpus Hypercubus), Salvador Dalí, 1954, Metropolitan Museum of Art, New York City.
Das Gemälde zeigt Jesus auf einem 3-dimensionalen Netz (Schnittmuster) des 4-dimensionalen Tesserakts (analog dem kreuz­förmigen 2-dimensionalen Netz eines 3-dimensionalen Würfels).


Sogar Lenin sah sich genötigt, zur 4. Dimension Stellung zu nehmen. Nach einem Streit innerhalb der bolschewistischen Partei, bei dem sich so genannte „Gottesbildner“ mit religiösen und spiritistischen Lehren an die Bauern wenden wollten, um sie reif für den Sozialismus zu machen, drohte die Spaltung der Partei. Lenin schrieb: „Von ihm aus sollen die Mathematiker die 4. Dimension und die Welt des Möglichen erforschen, das sei auch gut so, doch der Zar lasse sich nur in der 3. Dimension stürzen.“

Rod Serling, der die berühmte Fernsehserie The Twilight Zone (1959-1964) schuf, genügte selbst die 4. Dimension nicht mehr. Im Vorspann der Serie spricht er folgende Einleitung: „Es gibt eine 5. Dimension jenseits der menschlichen Erfahrung – eine Dimension, so gewaltig wie der Weltraum und so zeitlos wie die Ewigkeit. Es ist das Zwischenreich, wo Licht in Schatten übergeht, Wissenschaft auf Aberglauben trifft. Sie liegt zwischen den Fallgruben unserer Furcht und den lichten Gipfeln unseres Wissens. Dies ist die Dimension der Fantasie, das Reich der Dämmerung – die Twilight Zone.“

Auch die Physik des 20. Jahrhunderts begnügte sich nicht mehr mit 4 Dimensionen. Zunächst wuchs durch die Kaluza-Klein-Theorie (1921) die Anzahl der Dimensionen auf 5 und in den 80er Jahren durch die Superstringtheorie auf 10 (später in der M-Theorie sogar auf 11).


Eine Frage der Perspektive

Auf den ersten Blick haben die fiktive Welt Flatland, die Edwin A. Abbott in seinem 1884 erschienenen Buch schilderte, und unsere Welt, wie sie durch die 10-dimensionale Superstringtheorie beschrieben wird, nicht viel gemeinsam.
Flatland ist, wie der Name schon sagt, eine flache Welt mit 2 Dimensionen (eine Ebene) und in einen 3-dimensionalen Raum eingebettet. Unsere Welt hingegen ist 3-dimensional (Länge, Breite und Höhe) und nach der Superstringtheorie in einen 10-dimensionalen Raum eingebettet.

In Flatland „leben“ flache Figuren wie Dreiecke, Quadrate, Vielecke und Kreise. Arbeiter und Soldaten werden in Flatland durch Dreiecke dargestellt und stehen in der gesellschaftlichen Rangordnung ganz unten. Kreise repräsentieren hingegen Priester und stellen die Spitze der Gesellschaft dar. Für die Bewohner von Flatland sind Dreieck und Kreis vollkommen verschieden und ein Zusammenhang ist nicht erkennbar. Anders sieht die Sache für Bewohner des 3-dimensionalen Raumes aus. Zeichnet man den Grundriss eines 3-dimensionalen Körpers, z.B. eines Kegels, bekommt man einen Kreis, im Aufriss ein Dreieck. Für ein 3-dimensionales Wesen, wie uns, sind Kreis und Dreieck in diesem Fall nur verschiedene Projektionen (Schnitte, Schattenwürfe) eines einheitlichen Körpers (eines Kegels) auf eine 2-dimensionale Ebene. Den Bewohnern von Flatland ist dieser Zusammenhang, die Einheit von Dreieck und Kreis im Kegel, nicht zugänglich, da ihnen die Anschauung der 3. Dimension fehlt.



Kreis und Dreieck finden ihre Einheit im höherdimensionalen Kegel

Kreis und Dreieck finden ihre Einheit im höherdimensionalen Kegel


Das Beispiel zeigt: Was in wenigen Raumdimensionen verschieden und getrennt erscheint, kann in höheren Dimensionen ein und dasselbe sein.

Schon seit langem versucht man, die beiden großen physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts, die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie, zu vereinen.
Die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt eine der vier Elementarkräfte unseres Universums, die Gravitation, und die Quantentheorie die anderen drei Elementarkräfte: elektromagnetische Wechselwirkung, schwache Wechsel­wirkung (radioaktiver Zerfall) und starke Wechselwirkung (hält die Atomkerne zusammen).

Bei extrem hohen Energien auf kleinstem Raumgebiet, wie es beim Urknall oder Schwarzen Löchern der Fall ist, verlieren diese beiden Theorien jedoch ihre Gültigkeit und liefern unsinnige Ergebnisse. Deshalb ist man daran interessiert, eine übergeordnete Theorie zu finden, die beide Theorien vereint und auch noch in solch extremen Anwendungen, wie dem Urknall oder Schwarzen Löchern, richtige Ergebnisse liefert. Die 10-dimensionale Superstringtheorie ist ein solcher Kandidat**.

Ähnlich wie Dreieck und Kreis nicht in der 2-dimensionalen Ebene von Flatland, sondern erst im 3-dimensionalen Raum ihre Einheit in Gestalt eines Kegels finden, können Allgemeine Relativitätstheorie und Quantentheorie erst im 10-dimen­sionalen Raum der Superstringtheorie zu einer einzigen Theorie vereinheitlicht werden.


Verschiedene Ebenen der Wirklichkeit

Nach der Superstringtheorie war das ursprüngliche Universum 10-dimensional und in einem Zustand maximaler Symmetrie. Beim Urknall zerfiel es in 3, sich immer weiter ausdehnende, Raum-Dimensionen und die Zeit als 4. Dimension. Die restlichen 6 Dimensionen rollten sich zu einem so genannten 6-dimensionalen Calabi-Yau-Raum auf, der so klein ist (Planklänge), dass er von uns nicht wahrgenommen werden kann (stark vereinfacht kann man sich einen solchen Calabi-Yau-Raum als eine winzige 6-dimensionale Kugel denken).
An jedem Punkt unseres gewöhnlichen 3-dimensionalen Raumes befindet sich solch ein verborgener 6-dimensionaler Calabi-Yau-Raum. Die unser Universum gestaltenden Kräfte und die Materie existieren nicht nur in den 3 Dimensionen des Raumes, sondern reichen auch in die 6 Dimensionen der Calabi-Yau-Räume hinein. Das, was wir mit unseren Sinnen und Messapparaten im 3-dimensionalen Raum wahrnehmen und messen, ist nur die Spitze eines Eisberges.



Calabi-Yau-Raum

An jedem Punkt des 3-dimensionalen Raumes, hier als Ebene gezeichnet, befindet sich ein 6-dimensionaler Calabi-Yau-Raum, der vereinfacht durch eine Kugel dargestellt ist.


Das Bild erinnert an die Metapher von Indras Netz“ aus dem Avatamsaka Sutra:
Der altindische Gott Indra hat in seinem himmlischen Palast ein Netz, das Raum und Zeit umspannt und ein Abbild des Kosmos ist. In den Kreuzungspunkten von Indras Netz befinden sich gegenseitig reflektierende Perlen, Symbole für eine bestimmte Existenz. Blickt man in eine davon, spiegeln sich alle anderen darin wider. Was sich in einer Perle zeigt, erscheint gleichzeitig auch in allen anderen und umgekehrt. Was mit einer von ihnen geschieht, beeinflusst auch alle übrigen. Jede Perle besitzt die gesamte Information des Universums. Alles was existiert, steht in Beziehung zueinander.

Neben der uns vertrauten Ebene der Wirklichkeit, die aus räumlich getrennten Objekten besteht, existiert noch eine fundamentalere Ebene der Wirklichkeit, in der alles miteinander verwoben und verbunden ist und eine unteilbare Ganzheit bildet:

Der Quantenphysiker David Bohm (1917-1992), ein Schüler Einsteins, hat es in seinem 1980 erschienenen Buch Die implizite Ordnung. Grundlagen eines dynamischen Holismus so beschrieben:
Die erste Ebene stellt die explizite Ordnung (entfaltete Ordnung; von lat. explicare, entfalten) dar und ist die mit unseren Sinnen wahrnehmbare Objektwelt. Die zweite Ebene bezeichnet Bohm als implizite Ordnung (eingefaltete Ordnung) und ist eine Dimension außerhalb von Raum und Zeit, ein Wirklichkeits­bereich, in dem alles in eingefalteter, potentieller Form existiert. Es ist eine Welt der Möglichkeiten, aus der die Tatsächlichkeiten der expliziten Ordnung durch Entfaltung entstehen. Diese zweite Ebene, die implizite Ordnung, hat holo­graphische Eigenschaften, d.h. jeder Punkt in ihr enthält das Ganze, und was in der expliziten Ordnung ein lokalisiertes Objekt ist, ist hier über das Ganze verteilt. Dieser Urgrund der Wirklichkeit ist nun nach Bohm nicht nur der Ursprung der Materie, sondern auch der des Bewusstseins. Er stellt einen Wirklich­keitsbereich dar, wo das Subjekt des Wahrnehmenden und das Objekt des Wahrgenommenen noch eins sind.

Und Werner Heisenberg (1901-1976), einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts und Nobelpreisträger, schrieb 1959 in Die Planksche Entdeckung und die philosophischen Probleme der Atomphysik:
„Die Naturgesetze bestimmen nicht das Eintreten eines Ereignisses, sondern die Wahrscheinlichkeit für dieses Eintreten […]. Damit war ein entscheidender Schritt von der klassischen Physik weg vollzogen, und im Grunde war damit auf eine Begriffsbildung zurückgegriffen, die schon in der Philosophie des Aristoteles eine wichtige Rolle gespielt hatte. Man kann die Wahrscheinlichkeitswellen […], als eine quantitative Fassung des Begriffs der 'dynameis', der Möglichkeit, oder in der späteren lateinischen Fassung der 'potentia' in der Philosophie des Aristoteles interpretieren. Der Gedanke dass das Geschehen selbst nicht ganz zwangsläufig bestimmt sei, sondern dass die Möglichkeit oder die 'Tendenz' zu einem Geschehen selbst eine Art von Wirklichkeit besitze, - eine gewisse Zwischenschicht von Wirklichkeit, die in der Mitte steht zwischen der massiven Wirklichkeit der Materie und der geistigen Wirklichkeit der Idee oder des Bildes -, dieser Gedanke spielt in der Philosophie des Aristoteles eine entscheidende Rolle.


* s.a. Lexikonpunkte Bewusstsein 2 und Hyperraum 1

** Die Superstringtheorie ist zur Zeit der aussichtsreichste Kandidat für eine TOE (Theory Of Everything) aber bisher experimentell noch nicht verifiziert.



© Copyright Peter Liendl und Gisela Klötzer




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